Von Amts-Wegen
Ämter haben keinen sonderlich guten Ruf. Sie scheinen eher notwendige Übel, kaum zu verhindernde Nebenprodukte von Staatlichkeit und Vergesellschaftung zu sein. Nicht erst seit Franz Kafkas Roman Das Schloss (1922/1926), George Orwells Ministry of Truth in 1984 (1949) oder Terry Gilliams Film Brazil (1985) hat sich das Bild eines obskuren Verwaltungsapparats etabliert, der auf undurchschaubare Weise Macht ausübt. «Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung», so hat es bereits der wohl bekannteste Theoretiker des Amtes, Max Weber, im Jahre des Erscheinens von Kafkas Roman formuliert.
Gern geht man jedenfalls selten ins Amt. Weshalb dann ein Amt für die ganze Wahrheit als Leitmotiv für eine Ausstellung über Fake, Lüge und Wahrheit? Es ist gerade seine Ambivalenz, die es dafür prädestiniert. Denn das Amt ist eben auch eine Chiffre für die Infrastruktur, ohne die das Zusammenleben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft kaum möglich wäre. Ämter und Behörden insgesamt zeigen als Institutionen eine grosse Beharrungstendenz mit geringer Neigung zur Veränderung ihrer Prinzipien. Das macht sie verlässlich und hilft bei der Orientierung. Das Gleiche lässt sich über die Wahrheit sagen. Ohne sie und ohne ihre unmittelbaren Verwandten – Original, Echtheit, Authentizität, Aufrichtigkeit – würde dem Leben wohl jedes Richtmassfehlen. Sie helfen bei der Partnerwahl ebenso wie beim Kaufwunsch, beim Kunstgenuss wie bei der Durchsetzung von Urheberrechten, der Einschätzung eines Erlebnisses oder der Formulierung von grossen Zielen. Wahrheit ist ein hohes Gut, für viele das höchste: heilige Wahrheit. Grund genug, sich um sie zu kümmern. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass die Lüge bloss das Fehlen von Wahrheit wäre. Die Dinge liegen komplizierter, und das ist das eigentliche Thema der Ausstellung. Die Lüge ist eine Macht eigener Art, ist doch der Mensch das Tier, das lügen kann. Damit ist nicht gemeint, dass man lügen sollte. Aber es ist manchmal gut zu wissen, dass man könnte. Es ist dies eine Variante der Definition, wonach der Mensch jenes Wesen sei, das sprechen kann. Sprechen können heisst lügen können. Mit Umberto Eco: «Wenn man etwas nicht zum Aussprechen einer Lüge verwenden kann, so lässt es sich umgekehrt auch nicht zum Aussprechen der Wahrheit verwenden: Man kann es überhaupt nicht verwenden, um ‹etwas zu sagen›. Ich glaube, dass die Definition einer ‹Theorie der Lüge› ein recht umfassendes Programm für eine allgemeine Semiotik sein könnte.» Was für die Semiotik gilt, gilt für die modernen Wissenschaften insgesamt. Die Wissenschaftsgeschichte der vergangenen 100 Jahre ist zu Teile nidentisch mit dem Versuch, zu zeigen, dass auch das, was man exakte Wissenschaft nennt, nicht einfach nur an sich existierende Wahrheiten entdeckt. Vielmehr wird Wahrheit erst hergestellt, weil die Art und Weise des Zugriffs darüber entscheidet, ob und dass etwas als signifikant in Erscheinung tritt.
Ohne eine solche Handlung und Rahmung lässt sich von Wahrheit nicht sprechen. Die Ergebnisse solcher Zugriffe sind dann sehr wohl wahr, aber sie sind es erst geworden. Und als gewordene Wahrheiten üben sie eine orientierende, aber auch eine normative Funktion aus mit im Positiven wie im Negativen unabsehbaren, das heisst weder präzise prognostizierbaren noch völlig kalkulierbaren, Folgen. Dabei handelt es sich auch nicht bloss um einen Prozess der Falsifikation, das heisst die kontinuierliche Eliminierung all dessen, was nicht wahr ist.Die Wissenschaftsgeschichte lehrt, dass bestehende Wahrheiten sich regelmässig als Hindernis für andere Zugriffe auf die Realität erweisen und damit neuen Entdeckungen im Wege stehen. Die Wahrheit von heute kann die Lüge von morgen sein,bloss dass die Zeiträume von heute und morgen nicht von heute auf morgen sich vollziehen. Das nennt man Freiheit der Wissenschaft. Diese ist heute nicht zuletzt dadurch bedroht, dass Forschung immer kapitalintensiver und interessenabhängiger geworden ist, man also möglichst vorab wissen will, was man Neues erfinden wird und wozu es sich nutzen lässt. Doch das Neue, das in seinen Folgen bereits bekannt ist, ist kein Neues. Die kommende Wahrheit steht auf Kriegsfuss mit der alten und wird von dieser gern als Lüge diskreditiert.
Das ist die formale Seite. Für die gesellschaftlich-politische Seite hat es Hannah Arendt in der Moderne wohl am deutlichsten gesagt: Alleine die Fähigkeit zu lügen bestätigt, dass es so etwas wie Freiheit wirklich gibt. Denn die Wahrheit bindet und macht unfrei, auch wenn sie zugleich eine unverzichtbare Bedingung und Orientierung für die Freiheit bleibt. Ist sie einmal allgemein formuliert und bestätigt, lässt sie sich individuell meist nicht mehr ändern – andernfalls wäre sie keine Wahrheit gewesen. Diese Formulierung bleibt nur so lange unumstösslich, wie man Logik als zeitlos betrachtet; vor dem Hintergrund des Menschlichen, und das heisst einer begrenzten Lebenszeit, ist dies weniger eindeutig. Zwar spielen Logik und die Referenz auf eine angebliche Natur mit ihrem Beharrungsvermögen (dass der Stein daliegt, ist wahr) und ihren Gesetzen (die Schwerkraft hält den Stein an seinem Platz oder lässt ihn fallen) in unserem Vorstellungsvermögen eine wichtige Referenz und Orientierung. Sie taugt jedoch nur sehr bedingt als Vorbild für die Wahrheit im Lebensvollzug und Zusammenleben. Zwar binden mich die Naturgesetze und halten meinen Körper am Boden, und keiner meiner Schritte wird je ohne diese möglich sein. Wohin ich gehe, lässt sich daraus nicht ableiten. Zwar mag das Gefühlsleben logische Kriterien kennen und nutzen, aber sie sind nicht zwingend, sondern nur eine mögliche Option und manchmal sogar Grund dafür, sich anders zu verhalten. Die Lüge ist weniger als blosser Sachverhalt von Interesse («Alle Kreter lügen»), umso mehr als Beschreibung des Momentanzustand seiner rückgekoppelten Beziehung zwischen zwei oder mehr Parteien: Menschen, Paaren, Gruppen, Institutionen, Nationen usf.
Entsprechend ist oft betont worden, dass das Gegenteil der Lüge nicht die Wahrheit, sondern die Wahrhaftigkeit ist – als Hinweis darauf, dass es um eine aktive Handlung geht. Zu Lüge und Wahrhaftigkeit gehört die Intention und das heisst das Bewusstsein, wahrsprechen oder lügen zu wollen. Hier liegen die Dinge nicht symmetrisch:
Man kann nicht unabsichtlich lügen, sehr wohl aber unabsichtlich die Wahrheit sagen. Das liegt daran, dass der Wahrheit eine Selbstverständlichkeit zu eigen ist, die im Alltagsfall als unproblematisch erscheint, eben weil sich die Wahrheit vom Status quo her definiert. Dies zeigt sich auch energetisch: Das Sagen von Wahrheit ist für das Gehirn in der Regel (ausser etwa beim Geständnis einer Lüge) mit einem geringeren Kalorienverbrauch verbunden als das Lügen. Man muss schlicht weniger Aufwand betreiben, die Folgen seines Tuns und die Reaktionen anderer vorab zu bedenken. Indem man wahr spricht, zeigt man sich als individuelles Allgemeines. Man füllt eine vorgegebene Form aus. Das Subjekt als Beamter. Da ist man dann immer schon im Amt, nahe bei der Wahrheit und in Erfüllung der Direktiven. Das Leben als Quizshow, Lebensverläufe als Multiple-Choice-Aufgabe. Vor diesem Hintergrund ist die Lüge eine Utopie möglicher Abweichung und Individualität – trotz oder wegen des grösseren energetischen Aufwands. In der Praxis bedeutet dies: Um Wahrheit muss gerungen werden, ohne dabei die Lüge zu verbannen. Nicht zuletzt bedeutet es zu beachten, dass der konkrete Zusammenhang einer Aussage mit Lügenverdacht oder Wahrheitsanspruch mit darüber entscheidet, ob etwas als Wahrheit oder Lüge gelten kann. Jede Lüge schafft eine kleine oder grosse Alternativwelt, eine Welt des «Könnte-sein», «Sollte-sein» und «Es wäre möglich». Jeder Künstler, jeder Schriftsteller lügt, wenn er mit seinen Mitteln eine Welt entwirft: satanische Verse. Aber sobald die Leser, Betrachter, Zuschauerwissen, dass es sich um eine Lüge handelt, verliert sie diesen Charakter und kann sogar Künder einer bislang unbeachteten Wahrheit sein. Jede Fantasie, die ihren Namen verdient, steht mit mindestens einem Bein in der Lüge. Ohne sie liesse sich ausserhalb der besten aller Welten schwerlich auskommen. Das liegt auch an der Asymmetrie von Machtverhältnissen. Die Lüge ist nicht nur eine Waffe der Mächtigen zur Manipulation der Massen; viel eher war und ist sie eine der Schwächeren – weshalb es erst recht problematisch ist, sie ohne Ansehung des Einzelfalls verurteilen und bekämpfen zu wollen. Das für eine Macht Beunruhigende an der Lüge ist gerade, dass sie nicht verallgemeinerbar ist. Das ist die «irreduzibel ethische Dimension der Lüge».
Die Folgerung daraus ist nicht ein Persilschein für Willkür, sondern gesteigerte Verantwortung für die Analyse und das Verständnis einer konkreten Situation. Das war immer die Botschaft des christlichen Gottes, der damit seinen Tod bewusst in Kauf nahm: nicht das starre Erfüllen von vorgegebenen Gesetzen und Orientierung an eindeutigen Unterscheidungen, sondern das Abwägen jedes Einzelfalls. Wahrheiten müssen verteidigt werden, gerade wenn man weiss, dass sie auf Widerruf gelten und das heisst nicht absolut sind. Die Komplexität wie auch die Banalität eines Lebens bringen es mit sich, dass Überzeugungen darin mehr wiegen als abstrakte Wahrheiten. Das macht Wahrheit auch zu einer Glaubens- und Vertrauenssache. Im sozialen und geistigen Bereich ist es deshalb leicht und schwer zugleich, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Schwer, weil an menschlichen Situationen eine Fülle von Aspekten beteiligt sind, die praktisch nie adäquat zu würdigen sind; leicht, weil man in einer konkreten Situation meist sehr genau angeben kann, auf welcher Ebene und in welchem Sinne hier um die Wahrheit gerungen wird. Im Alltag scheint die Wahrheit selten ein Problem, man weiss sie intuitiv. Ein schwarzes Loch bleibt hierbei freilich das individuelle Bewusstsein, dessen Selbstpräsenz nie gesichert ist. Weiss ich je, warum ich handle und warum ich entscheide? Kann man sich selbst belügen? Wer wäre das Subjekt dieser Tat? Sogar das Rechtssystem trägt diese Unklarheit in sich. Einem Angeklagten – nicht aber dem Zeugen – ist es ausdrücklich erlaubt zu lügen. Denn um seine individuelle Freiheit zu verteidigen, sind alle Mittel erlaubt, sofern sie nicht die Rechte anderer verletzen oder ihnen konkret Gewalt antun. Dann obliegt es den Rechtsvertretern, die Wahrheit zu beweisen und den Angeklagten zum Geständnis zu bewegen.
Mit dem kollektiven Bewusstsein sieht es nicht viel besser aus. Es gibt in der Realität sehr viel mehr Dinge, die kollektiv eingebildet sind, als man sich gemeinhin vergegenwärtigt. Real werden sie durch die Wirkungen, die sie im Gemeinwesen auslösen. Robert Pfaller spitzt es in seiner Analyse der Lüge so zu: «Gesellschaften sind umso kultivierter, je eher sie in der Lage sind, an durchschauten Täuschungen zärtlich festzuhalten.» Was der menschlichen Machtwillkür Einhalt gebietet, was Orientierung gibt, die Hegung von Gewalt und die Eindämmung von Ungerechtigkeit unterstützt, sind nicht selten Dinge, die aus erkenntnistheoretischer Perspektive blosser Humbug sind. Fragt sich, wer das Recht hätte, dies zum Argument zu erheben.