Fake News sind nicht neu
Die Verbreitung von Fake News über das Internet, der Verdacht, die Printmedien betätigten sich als «Lügenpresse », das Kursieren von Verschwörungstheorien – all dies trägt aktuell sehr zu unserer Beunruhigung bei und lässt uns doch vergessen, dass Lügen und ihr bewusster Einsatz für politische Zwecke die Menschheit seit Anbeginn der Zeiten begleiten. Wie sollte es auch anders sein? Immer dort, wo menschliche Interessen im Spiel sind, suchen Menschen auch ihren Vorteil. Inwieweit sie dabei zu unsauberen Mitteln greifen, hängt davon ab, wie viel (oder wie wenig) Skrupel sie haben und wie hoch das Gut angesiedelt ist, das sie erstreben. Der Kampf um die Macht ist zweifellos etwas, das auf sehr viele Menschen moralisch enthemmend wirken kann, verfügt derjenige, der die Macht hat, doch potenziell auch über alle anderen Güter. Insofern überrascht es nicht, dass die Lüge im Raum des Politischen ein oft gebrauchtes Mittel war und ist. Ein kurzer Blick in die Geschichte soll diese Beobachtung untermauern.
Das möglicherweise früheste Zeugnis einer historischen Fälschung stellt der Bericht über die Schlacht von Kadesch 1274 v. Chr. dar. Ramses II., besorgt um die sinkende Reputation der Pharaonen und begierig auf eine Erweiterung des Reichs, hatte die Hethiter überfallen. Leider erwies sich das Unternehmen als Fehlschlag; die Ägypter unterlagen. Das hinderte den Pharao nicht daran, die Niederlage in einen Sieg umzumünzen. Ausgesuchte Dichter des Reichs verfassten Texte, die den grossen Sieg des Königs feierten. Wichtige Momente der Schlacht wurden zudem von Künstlern in Bildszenen festgehalten – auf ihnen zu sehen ist unter anderem ein überdimensionierter Ramses, wie er im ägyptischen Lager den Feind allein abwehrt. Diese Bildreihe liess der Pharao in mindestens fünf grössere Tempel meisseln. Nun hatte Ramses in der Schlacht zwar durchaus Tapferkeit bewiesen, doch Ägypten war aus ihr geschlagen hervorgegangen.
Im antiken Griechenland kämpfte Athen mit allen Mitteln um die Vorherrschaft unter den griechischen Poleis. Zu diesen Mitteln gehörte es auch zu behaupten, die ionischen Städte in Kleinasien seien allesamt athenische Gründungen. Hier war die Fälschung also rückwärtsgewandt, sie betraf die Genealogie der Stadtstaaten. Der Zweck der Geschichtsklitterung war allerdings sehr aktuell: Athen wollte auf diese Weise seine Dominanz im attisch-delischen Seebund und den Zugriff auf die gemeinsame Bundeskasse legitimieren.
Zu einiger Berühmtheit in puncto Geschichtsfälschung gelangte die sogenannte Konstantinische Schenkung, ein im 9. Jahrhundert wohl in einem französischen Kloster gefertigtes Dokument, das vorgab, Kaiser Konstantin hätte im 4. Jahrhundert Papst Silvester die kirchliche Oberhoheit über das Weströmische Reich verliehen. War schon das nicht wahr, so vergrösserten spätere Umformulierungen und Umdeutungen die Macht des Papstes noch: Aus der kirchlichen wurde eine weltliche Herrschaft, und das Herrschaftsgebiet erweiterte sich auf ganz Italien bzw., je nach Interpretation, sogar auf das gesamte West- und Oströmische Reich. Das mittelalterliche Ringen zwischen weltlicher und geistlicher Macht hatte nicht zuletzt in dieser gefälschten Urkunde seinen Ursprung – eine geschichtliche Lüge von unvorhersehbarer Wirkung.
Dass auch Hass auf ganze Volksgruppen ein Motiv sein kann, Lügen in die Welt zu setzen, zeigt die Ritualmordlegende um Simon von Trient. Nach dem Verschwinden des kleinen Simons an Ostern 1475 in Trient beschuldigte der Prior eines Franziskanerklosters Juden, das Kind entführt und sein Blut zu rituellen Zwecken verwendet zu haben. Die durch Folterungen erpressten Geständnisse jüdischer Bürger wurden zwar gerichtlich nicht verwertet, führten aber zum Tod von 14 Angeklagten. Durch die Heiligsprechung des Simon von Trient wurde die Legendenbildung vorangetrieben, und weitere ungeklärte Fälle von vermissten Kindern wurden mit den angeblichen rituellen Praktiken von Juden in Verbindung gebracht. Damit verfestigte sich ein antijudaistisches Stereotyp, das schon in der Antike in Umlauf gebracht worden war.
Auch geschickte Weglassungen können den Rang von Lügen erreichen, das beweist die Geschichte von der Emser Depesche. Prinz Leopold von Hohenzollern hatte 1870 seine Kandidatur auf den spanischen Thron aufgrund des vehementen Protests seitens Frankreichs zurückgezogen. Daraufhin versuchte der französische Botschafter in Preussen, von König Wilhelm I., der sich zur Kur in Bad Ems aufhielt, die Zusicherung zu erhalten, dass das Haus Hohenzollern auch für alle Zukunft keine Anwartschaft auf den spanischen Thron mehr geltend mache. Wilhelm I. lehnte das ab, ebenso wie weitere Gespräche, die sich durch den ihm zwischenzeitlich gemeldeten Thronverzicht Leopolds erübrigt hatten. In einer Depesche wurde Reichskanzler Bismarck von diesen Ereignissen in Kenntnis gesetzt. Bismarck gab die Depesche derart verkürzt an die Presse weiter, dass sie als gezielter Affront gegenüber Frankreich empfunden wurde. Der auf diese Weise brüskierte Napoleon III. reagierte mit einer Kriegserklärung an Preussen – der Beginn des Deutsch-Französischen Krieges.
Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass ganze Systeme auf einer Lüge beruhen können – nämlich jene totalitären Systeme, die einen Heilszustand versprachen, aber in Wahrheit Menschen knechteten, seelisch brachen und massenhaft ermordeten. Kontrafaktisch wurde eine glückliche Wirklichkeit inszeniert, obwohl tatsächlich der Terror regierte. Und manchmal liessen sich auch die Opfer in die Inszenierung einspannen: In den russischen Schauprozessen von 1936–1938 bekannten sich Menschen zu Verbrechen gegen den Kommunismus, die sie nie begangen hatten. Schlimm genug war es, wenn man sie durch Folter zu den Geständnissen bewegt hatte. Geradezu tragisch aber ist es zu nennen, wenn sie als gläubige Kommunisten meinten, ihrer Partei auf diese Weise den letzten Dienst erweisen zu müssen.
Und unsere Gegenwart? Ein von den USA und Grossbritannien initiierter Irakkrieg, der mit angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen begründet wird; ein russischer Einmarsch in die Ostukraine, um vorgeblich bedrohten russischen Bürgern zu Hilfe zu kommen; eine wohl von Russland ausgehende Streuung von Gerüchten über Hillary Clinton mit dem Zweck, ihre Präsidentschaftskandidatur scheitern zu lassen usw. – noch immer wird der Kampf um die Macht mit allen Mitteln geführt.
Wie schon an den historischen Beispielen erkennbar, kann sich die Lüge in die verschiedensten Gestalten kleiden. Sie richtet sich an Augen und Ohren, an Herz und Hirn. Meist sind es Worte, mit denen gelogen wird, gesprochene und geschriebene. Zu Letzteren zählen gefälschte Dokumente wie das genannte Constitutum Constantini, aber auch ganze Bücher wie die Protokolle der Weisen von Zion aus dem Jahr 1905, in denen von einer jüdischen Weltverschwörung fabuliert wird und die noch heute in antisemitischen Kreisen gelesen werden. Hetzerische oder propagandistische Flugblätter gehören ebenso zu den schriftlich kursierenden Lügen wie bewusste Falschmeldungen in Zeitungen und im Internet. Mündlich verbreitete Fälschungen haben oft die Gestalt des Gerüchts und der Verschwörungstheorie, sie können aber auch als vermeintliche Nachricht über den Rundfunk gesendet werden: Man denke an die Falschmeldung, Polen hätten den deutschen Sender in Gleiwitz überfallen, womit Hitler 1939 den Einmarsch in Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs legitimierte.
Fälschen und lügen kann man ebenso mit Bildern. Die Präsentation des heldenhaften Ramses ist nur ein Beispiel. Viele Herrscher liessen sich von ihnen ergebenen Künstlern in vorteilhaftester Weise porträtieren, unter Weglassung körperlicher Defizite, die ihren Nimbus hätten schmälern können. So wurden Darstellungen von Kaiser Wilhelm II. stets so arrangiert, dass sein verkrüppelter Arm nicht als solcher erkennbar war. Gravierender noch waren die Retuschen unter totalitärer Herrschaft. Aus den Fotos, die die Autokraten mit ihrer Entourage zeigten, wurden nach und nach die Männer gelöscht, die auch physisch ausgelöscht worden waren. Ein Bild von 1926 etwa zeigt Stalin mit vier Mitstreitern. Sukzessive verringert sich die Zahl der Abgebildeten, bis 1949 nur noch einer von ihnen «übrig» ist: Sergej Kirow, der 1934 unter ungeklärten Umständen ermordete KP-Vorsitzende Leningrads, der als Einziger nicht in Ungnade gefallen war. Und auf einem Foto, das Hitler mit Göring und dem SA-Chef Röhm zeigt, klaffte nach der «Nacht der langen Messer» 1934 eine auffallende Lücke. Röhm war auch optisch ausradiert worden. Fälschungen, Fake News etc. richten sich an diejenigen menschlichen Sinne, mit denen wir vornehmlich die Welt erschliessen, das Sehen und das Hören. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Was sich allerdings geändert hat, sind die Medien, mittels derer unsere Sinne aktiviert werden. Hier haben die Umbrüche in der medialen Aufbereitung zu einer Veränderung bezüglich der Reichweite, möglicherweise auch der Qualität von Fälschungen und Lügen geführt.
Der erste bedeutende Umbruch war sicherlich die Erfindung des Buchdrucks. Nun konnten Nachrichten massenhaft vervielfältigt und in Umlauf gebracht werden, ohne mühsam von Hand kopiert werden zu müssen. Das beförderte die Verbreitung von Flugblättern und Propagandaschriften, mit denen man die Öffentlichkeit auch desinformieren und manipulieren konnte. So wurde im 16. Jahrhundert die Flugschrift zu einer massenwirksamen Form der Propaganda. Auch in der Werkstatt Gutenbergs wurden nicht nur die Heilige Schrift, sondern ebenso antitürkische Flugblätter produziert.
Ein weiterer Schritt in der Entwicklung war die Erfindung der Zeitung im 17. Jahrhundert. Der Adressatenkreis der Druckerzeugnisse wuchs und wurde, durch die jeweilige Ausrichtung der Zeitung, auch spezifischer, insofern gezielter ansprechbar. Zeitungen, die sich zum Sprachrohr der Herrschenden machten, waren per se manipulationsanfällig; sie berichteten nichts Abträgliches über den Regenten. In extremer Form machte sich das in den totalitären Regimen geltend. Die gleichgeschaltete Presse war fester Bestandteil des amtlich verordneten Lügensystems: Im Völkischen Beobachter war nur Ruhmreiches aus der NS-Welt und Hetzerisches über reale oder vermeintliche Feinde zu lesen. Die Presse in der pluralistischen Demokratie ist ihrerseits pluralistisch, von daher kontrolliert die eine Darstellung potenziell die andere. Dass heute dennoch der Vorwurf der «Lügenpresse» erhoben wird, liegt an einem offenbar weit verbreiteten Eindruck, es gebe einen politischen «Mainstream», dem sich die bürgerliche Presse insgesamt beuge, was zum Verschweigen wichtiger Fakten, etwa über die Einwanderung führe.
Einen weiteren Umbruch bedeutete die Einführung von Film und Fernsehen im 20. Jahrhundert: Die grosse Bedeutung der Bildlichkeit in diesen Medien erhöht die Suggestivität bei der Informationsvermittlung, die durch musikalische Untermalung noch gesteigert werden kann. Hier stehen, ebenso wie bei der Boulevardpresse, Unterhaltung und Information oft im Spannungsverhältnis. Da kann eine dramatische Rettungsaktion – Kinder werden aus einer thailändischen Höhle gerettet – unversehens in eine Propagandashow für die Regierung umfunktioniert werden; die Bilder transportieren einen ganz anderen als den vermeinten Inhalt.
Einen medialen Umbruch noch unschätzbaren Ausmasses hat die Digitalisierung mit sich gebracht. Das Internet hat nicht mehr die binäre Struktur Sender – Empfänger, es ist eine Vernetzung von allen mit allen. Verbunden mit der Anonymität in weiten Bereichen der Kommunikation führt das zu völliger Entgrenzung: Fake News, Desinformationen und Verschwörungstheorien verbreiten sich weltweit mit rasender Geschwindigkeit, ihre Urheber sind nicht identifizierbar. Manchmal können sie auch von Robotern erzeugt sein. Weil es keine Gatekeeper, keine kontrollierende und für den Inhalt der Veröffentlichung verantwortliche Instanz gibt, kann sich jeder an dem Spiel beteiligen; Likes fachen den Furor an, mit dem man seiner Fantasie, aber auch seinem Hass freien Lauf lässt. Damit ist die Lüge demokratisiert, sie ist nicht mehr Privileg derjenigen, die um die Macht ringen.
In der Geschichte hat man mit den verschiedensten Mitteln versucht, sich der Fälschung, Lüge etc. zu erwehren. Die Kirche erliess ab dem 15. Jahrhundert einen Index Librorum Prohibitorum, mit dem sie Bücher bannte, die ihrer Meinung nach die Unwahrheit verbreiteten. Dabei setzte sie das Wissen um die Wahrheit bei sich selbst allerdings voraus. Die im 17. Jahrhundert eingeführte Praxis, geschichtliche Darstellungen mit Fussnoten, die auf die Quellen verweisen, zu versehen, sollte der Geschichtsklitterung ein Ende bereiten. Überhaupt verstand und versteht sich die Wissenschaft als Hort der Wahrheit, eine Wahrheit, die sie dem blossen Meinen, aber ebenso der Zurechtmachung und Verfälschung entgegenhält. Und auch das Recht hat, sofern es diesen Namen verdient, den Anspruch, sich nicht der Macht zu beugen, was immer diese als Wahrheit auszugeben versucht.
Das berührt jedoch ein tiefergehendes Problem: Die Wahrheit will erst einmal gefunden sein. Auch die Wissenschaft ist hier nicht immer eine verlässliche Partnerin, betätigen sich ehrgeizige Wissenschaftler doch selbst mitunter als Fälscher, um Reputation oder Geld zu erwerben. Wie also soll man es in einer immer unübersichtlicher und komplizierter werdenden Welt schaffen, nicht zum Opfer von Fakes zu werden? Das Gegenmittel Nummer eins ist sicher die Bemühung um eine solide Bildung. Diese sollte nicht nur das Wissen um Fakten fördern, sondern auch die Urteilskraft, das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen zu sondern. Mindestens ebenso wichtig ist aber ein gesundes Misstrauen, und zwar nicht zuletzt ein Misstrauen gegen sich selbst. Denn am leichtgläubigsten sind wir dort, wo die Lügen dem entsprechen, was unser Vorurteil uns schon immer hat glauben lassen.