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Das Rätsel des Wassers

Bild: Juanita Escobar

Reisebericht von Juanita Escobar (gekürzte Fassung)

Die Fotografin Juanita Escobar reist im August 2022 drei Wochen für die Ausstellung «Natur. Und wir?» dem Rio Atrato entlang. Auf ihrer Reise fängt sie das Zusammenleben von Fluss und Mensch mit ihrer Kamera ein. Begleitet wird sie von María de los Ángeles Sánchez Mosquera, Gemeindevorsteherin, die am und mit dem Fluss aufgewachsen ist, und dem Biologen und Forscher Sergio Estrada Villegas.

Bild: Juanita Escobar

In der Ausstellung NATUR gibt es einen Raum zum Fluss Atrato, der über 750 Kilometer durch das kolumbianische Hochland bis ins karibische Meer fliesst. Was Besucher:innen in diesem Raum sehen, ist ein Fluss und eine Geschichte – ein Fluss der Geschichten oder Flussgeschichten. Die Menschen und die Umgebung sind hier unzertrennbar voneinander. Wir werden Zeug:innen unterschiedlichster Schauplätze: ein mit Bananen beladenes Kanu, die Bagger in den Nebenflüssen, die Gold fördern, getrockneter Bocachico auf dem Markt, Überschwemmungen (von Jahr zu Jahr heftiger), Ufer, die mit Akronymen bewaffneter Gruppen (z.B. AGC: Autodefensas Gaitanistas de Colombia) markiert sind, Gruppen, welche von sich behaupten, die einzige Stimme zu sein und als einzige Recht zu haben, alles zu einer dicken Wolke werden lassen, ohne Perspektive und ohne Möglichkeit, ihr zu entkommen (wie dieser Satz, der keine Punkte hat, um Luft holen zu können), und hinter diesen Ufern: die Gebete und Pflanzenheilmittel, die Geschichten der wilden Tiere des Flusses, das laute Lachen der Frauen, die Freudenschreie und das Temperament, mit dem alle sprechen.

Bild: Juanita Escobar

Aus der Distanz sind der Atrato und der Golf von Urabá geografische Ortsnamen, die für den kolumbianischen Konflikt stehen: die zerstörte Stadt Bellavista/Bojayá, die Drogenhandelsroute, der extraktive Bergbau und der Holzschlag, die schweren Krisen junger Menschen, die in den Krieg oder in städtische Banden rekrutiert werden, die Zwangsumsiedlung, die Enteignung von Land, der institutionalisierte Rassismus, die Abwesenheit vom Staat, die Vergessenheit. All dies sind die Wege der Gewalt, die sich in diesen Gebieten wiederholen. Die menschliche Notlage schreit nach Veränderung, sie schreit nach einer Anerkennung des Konflikts, die Opfer dulden keinen Aufschub mehr, der Atrato bittet um Schutz und Fürsorge.

Karte: Stapferhaus
Bild: Juanita Escobar

Das Lächeln, das man auf den Gesichtern der Menschen auf den Fotos sieht, die versteckte Schönheit der Blumen, die Luft und die Weite der Landschaften, die Spiele der Kinder, die Pflanzen der Hebammen, die Stärke und Würde, mit welchen die Menschen miteinander umgehen, all das hat hier, in einem Gebiet, in dem trotz so viel Gewaltprozesse des ständigen Widerstands stattfinden, einen viel grösseren Wert. Die Grausamkeit des Lebens ist da draussen. Dazwischen leuchtet und blitzt es auf und darauf habe ich mich auf der Reise konzentriert: auf dieses Leben. Darauf, dass alle Elemente der Geschichte gleichwertig integriert werden, dass die Menschen nicht wichtiger sind als die Pflanzen, dass das Wasser die intimen Geschichten der Menschen nicht ertränkt.

Bild: Juanita Escobar

Wenn man an einen so grossen Fluss denkt, stellt man sich keine Wassertropfen vor, aber da sind sie, an der Quelle des Atrato, funkelnd und leuchtend. Tropfen, die zu Wasserlinien werden, die ihre Illusionen in den großen Fluss giessen und Teil von ihm sein wollen. Wir wandern von oben nach unten entlang des Wasserlaufs, von der Quelle bis zur Mündung des Flusses. Wir beginnen im Nebelwald auf einer Höhe von 3000 Metern, wo wir alle Farben beobachten und einfangen können. Schwarze Anthurien (Anthurium caramantae), grosse Orchideen (Sobralia), kleine Orchideen (Pleurothallis) und Miniaturorchideen (Stelis) bestimmten unseren Rhythmus. Moose und Flechten in allen Formen und Beschaffenheiten füllen unsere Augen mit Wasser. In der Ferne leuchten die Bäume violett vor dem fernen Hintergrund des Bergwaldes.

Bild: Juanita Escobar

Auf dem Weg nach Carmen de Atrato, dem nächstgelegenen Ort an der Quelle des Flusses, erzählt María, die am Atrato aufgewachsen ist und ihn wie ihre Westentasche kennt, immer wieder von Orchideen, Gefahren und Wasserfällen. Sie bittet uns, an einem Punkt der Strasse anzuhalten, an dem sich das Haus ihrer Kindheit befindet, wo sie sich an kristallklare Flüsse und das Spielen in den Hügeln erinnert. Sie und ihre Familie wurden durch die Gewalt von dieser Ranch vertrieben, aber zuvor wurde María im Rahmen eines kirchlichen Programms als «Begünstigte» zum Studium in ein Seminar in Carmen de Atrato geschickt, wo sie als Kind die Unterschiede zwischen den Indigenen und den Schwarzen, das Essen der Weissen, die Natur der Berge, die Kälte und den Rassismus kennenlernte.

Je weiter wir flussabwärts reisen, desto mehr Geschichten über ihre Verbindung zum Atrato berichtet uns María. Zum Beispiel ihre fast 20-jährige Beziehung zu der Organisation Cocomacia, einer der grössten Zusammenschlüsse von Gemeinderät:innen im Medio Atrato. In dieser Zeit hat sie unter der Leitung des Geografen Adith Bonilla einen gigantischen Kartierungsprozess durchgeführt, Resultat war die Aufzeichnung der 128 Gemeinden, aus welchen sich Cocomacia zusammensetzt.

Bild: Juanita Escobar

Als wir das Meer erreichen, tut María so, als würde sie auf einem Fohlen reiten, klammert sich mit Händen und Füssen an die Bretter und bricht bei jedem Aufprall des Bootes auf die Wellen in Gelächter aus… So lösen wir in der Abenddämmerung in Turbo unser Versprechen ein, den gesamten Atrato zu bereisen.

Im Hotel «Las Palmas» in Turbo hängt eine Postkarte von Zürich in einem goldenen Rahmen. Wir lachen über diese letzte Landschaft. Turbo-Zürich.

Bild: Juanita Escobar