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Vertrauen ist besser

Aus der Spirale eines allgemeinen Misstrauens gibt es kaum ein Entkommen. Wir müssen vertrauen, um überlebensfähig zu sein – auch in Zeiten von Fake News.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Der Satz wird Lenin zugeschrieben. In seinen Werken ist er allerdings nicht zu finden. Belegt ist hingegen, dass er des Öfteren das russische Sprichwort «Dowerjai, noprowerja» zitiert hat, das man mit «Vertraue, aber prüfe nach» übersetzen kann. Ich würde eher sagen: Nachprüfen ist gut, Vertrauen aber ist unentbehrlich. Denn Vertrauen ist nicht einfach eine Zutat unter anderen, die es braucht, damit soziales Leben funktioniert; sie ist vielmehr das Medium, in dem soziales Leben stattfindet. Eine Gesellschaft ohne Vertrauen ist wie ein Fisch, nicht nur ohne Fahrrad, sondern auch ohne Wasser. Weil unser Handeln nämlich stets auf Voraussetzungen beruht, die wir nicht kontrollieren können. Wenn wir nicht meschugge werden wollen, müssen wir vertrauen. Und selbst, wo wir kontrollieren, müssen wir uns doch auf unsere Kontrollsysteme und die Kontrolleure verlassen können.

Warum können uns selbst offenkundige Lügner mit der Frage, ob man ihnen etwa nicht glaube, in die Defensive bringen? Warum fallen Leute auf Hochstapler herein? Warum werden immer wieder ältere Menschen Opfer von «Enkeltrick»-Betrügern? Wie kommt es, dass selbst die obskursten Versprechen auf lukrative Rendite geglaubt werden? Weil Vertrauen gleichsam unsere Default-Einstellung ist. In einem Dauerzustand des Misstrauens kann man nicht leben. Ohne wechselseitiges Vertrauen (auch wenn es manchmal enttäuscht und missbraucht wird) ist keine Gesellschaft überlebensfähig, ja eigentlich nicht einmal als Gesellschaft denkbar. Sie wäre nämlich keine Gesellschaft mehr, sondern eine Ansammlung von Individuen, die sich miteinander in einem Krieg aller gegen alle befänden – in einem Zustand, der das genaue Gegenteil der sozialen Zusammenarbeit ist, ohne die nichts läuft. In einem Zustand, den Thomas Hobbes – unter dem Eindruck des Englischen Bürgerkriegs Mitte des 17. Jahrhunderts – als den menschlichen Urzustand vor dem Gesellschaftsvertrag beschreibt: Man kann niemandem trauen. So unterschiedlich die Menschen auch sind, so ähnlich sind sie doch untereinander (nicht zuletzt in ihrer Angst voreinander), dass ein bisschen Raffinesse reicht, auch den körperlich Überlegenen aus dem Weg zu räumen. So kann man nicht miteinander leben. Und so können auch keine demokratischen, sozialen und staatlichen Institutionen entstehen, die auch unter Belastungen funktionieren und über gewisse Selbstheilungskräfte verfügen. Die Lösung, die Hobbes vorschlägt, ist die Einrichtung einer absolutistischen Herrschaft, zugunsten derer die einzelnen Bürger auf jedwede Machtansprüche verzichten. Gegen ein universelles Misstrauen hilft in seinen Augen nur absolutistische Macht. Dieses Modell, Vertrauen einzig auf das Gewaltmonopol eines absoluten Herrschers zu gründen, dürfte uns wohl kaum noch attraktiv erscheinen. Etwa zur gleichen Zeit wie Hobbes den Leviathan veröffentlicht René Descartes seine Meditationen, in denen es um ein Misstrauen anderer Art geht. Er stellt sich nämlich die Frage, ob wir unseren Wahrnehmungen überhaupt trauen können. Könnte nicht alles Wahn oder Traum sein? Sein berühmtes Experiment, an allem zu zweifeln, endet in dem bekannten Grundsatz: Cogito (ergo) sum. Als Gewissheit bleibt einzig das zweifelnde Ich selbst übrig. Das bringt aber das Problem mit sich, dass das arme Ich nun ganz ohne Welt dasteht. Über den Umweg eines Gottesbeweises wird diesem Ich dann das Vertrauen in die Wahrnehmungen und das Denken zurückgegeben: Ein gütiger Gott würde uns niemals täuschen wollen. Aber Gottvertrauen als einzige Grundlage unseres sozialen Vertrauens oder absolutistischer Herrschaft ist nicht unbedingt das, was man in einer säkularen Gesellschaft erwartet. Wir wären wahrscheinlich eher geneigt, an die Stelle Gottes «die Wissenschaft» zu setzen. Doch könnte man dagegen einwenden, wenn einer derart naiv von «der» Wissenschaft spricht, so ist auch dem besser nicht zu trauen.

Hobbes und Descartes markieren zwei wichtige – vielleicht die wichtigsten – Aspekte des Vertrauens:einerseits das Vertrauen, vor Gewalt und Willkür geschützt zu sein – wir würden heute am ehesten sagen, das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit – und andererseits das Vertrauen, dass wir nicht getäuscht werden. Sie stehen für politisches und epistemisches Vertrauen. Und beide hängen eng miteinander zusammen, wie die Auseinandersetzungen um das Phänomen der Fake News zeigen. Politisches Vertrauen braucht auch epistemisches Vertrauen. Unsere Welt wäre nicht mehr unsere Welt,wenn wir alles, was geschieht, entweder als Zufall oder als systematischen Betrug auffassen müssten. Wir leben vielmehr in der Überzeugung, dass vieles mit vielem zusammenhängt und dass es oft kausale Beziehungen zwischen Ereignissen gibt. Wo wir keine erkennen können, behelfen wir uns mit einfachen Erfahrungssätzen wie zum Beispiel dem, dass shit happens. Oder manchmal wider Erwarten auch nicht. Wir erkennen in vielem einen Sinn, in manchem nicht und können es hinnehmen, dass es Lücken in unserem Wissen gibt. Wir sind unsystematische Systematiker. Man könnte auch sagen: epistemologische Phlegmatiker. Wir müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass die Dinge sind, wie sie scheinen. Nur besondere Situationen und Kontexte (eine Psychoanalyse, Quantenphysik etc.) erfordern eine andere Einstellung zur Welt, die in alltäglichen sozialen Situationen unbrauchbar oder gar zerstörerisch ist. Wir wären wahrscheinlich nicht von selbst darauf gekommen, dass VW und andere Autokonzerne die Abgaswerte ihrer Fahrzeuge manipuliert haben. Allerdings nehmen wir auch nicht an, die Berichte über diese Manipulationen könnten ihrerseits eine raffinierte Manipulation der Konsumenten sein. Ein Verschwörungstheoretiker freilich ersetzt dieses alltägliche Vertrauen durch ein universelles Misstrauen, von dem nur die wenigen Quellen ausgenommen sind,die sein Misstrauen bestätigen, und denen er darum wiederum vertraut. Es handelt sich hierbei um einen sich selbst verstärkenden Zirkel. Die Lücken des Zufalls stopft der Verschwörungstheoretiker mit einem Wust von Informationen, angesichts dessen wir erkenntnistheoretischen Weicheier resigniert die Waffen strecken. Wo unsereiner bestenfalls Argumente hat, hat der Verschwörungstheoretiker einen unerschöpflichen Vorrat an Fakten, die sich – wie im Traum der Erkenntnisproduktion durch big data – wie von selbst zu einer einzigen Erklärung zusammenfügen. Das alltägliche Vertrauen hat sich damit abgefunden, dass wir unmöglich für alle unsere Annahmen über die Welt zureichende Beweise haben. Wissen und Glauben sind keineswegs so scharf voneinander getrennt, wie eine naive Erkenntnistheorie annimmt. Das Vertrauen betrifft bei Weitem nicht nur den unmittelbaren Kontakt mit anderen Menschen und der Staatsmacht, sondern es bestimmt auch den Umgang mit technischen Dingen und Institutionen – mit Kreditkarten, Bancomaten, Autos, Universitäten und dem öffentlichen Verkehr, der AHV, mit Smartphones, der Strom- und Wasserversorgung, mit der Justiz und natürlich nicht zuletzt auch mit der Presse. Nur Verschwörungstheoretiker und eingefleischte Konsumenten von Verbrauchermagazinen schaffen es, einzig und allein ihrem eigenen Misstrauen zu trauen. In Herman Melvilles Erzählung Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen von1857 sagt eine der Figuren: «Vertrauen ist die unverzichtbare Grundlage für alle Arten von Geschäften. Ohne sie würde der Handel sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Staaten wie eine Uhr ablaufen und zu einem Ende kommen.» Und Niklas Luhmann, der Vater der Soziologischen Systemtheorie: «Der Mensch hat zwar in vielen Situationen die Wahl, ob er in bestimmten Hinsichten Vertrauen schenken will oder nicht. Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn. Nicht einmal ein bestimmtes Misstrauen könnte er formulieren und zur Grundlage defensiver Vorkehrungen machen; denn das würde voraussetzen, dass er in anderen Hinsichten vertraut. Alles wäre möglich. Solch eine unvermittelte Konfrontierung mit der äussersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus.»

Sozialversicherungen, das Geldsystem, die Justiz, das Bildungs- und das Gesundheitssystem, die gesamte Wirtschaft setzen nicht nur allesamt Vertrauen voraus, sondern ihr Funktionieren schafft auch seinerseits Vertrauen: Es handelt sich hierbei um einen Zirkel, der sich selbst verstärkt. Aber wehe, wenn diese Selbstverstärkung brüchig wird. Dann geht es rasant bergab. Solange das Gesamtsystem des wechselseitigen Vertrauens mit einzelnen Missbräuchen des individuellen Vertrauens umgehen kann, ist jeder Betrug zwar verwerflich und für den Einzelnen äusserst unangenehm (und wird hoffentlich entsprechend bestraft), aber er stellt das System nicht infrage.Um sich einen Begriff davon zu machen, was passiert, wenn das stabile System des Vertrauens immer prekärer wird, bis es zusammenbricht, muss man sich nur die tödliche Dynamik anschauen, in die sogenannte gescheiterte Staaten geraten sind. Ist die Todesspirale eines allgemeinen Misstrauens erst einmal in Gang gesetzt, scheint es nahezu unmöglich,sie jemals wieder umzukehren. Man könnte sagen, Vertrauen zirkuliert wie Strom durch ein Netz. Netzunterbrechungen können dabei unabsehbare Folgen für unser eigenes Leben und das anderer haben. Wir sind darauf angewiesen, dass zum Beispiel die Informationskette durch Glieder gewährleistet wird, denen wir vertrauen können. Nehmen wir ein Beispiel, das im Moment im Fokus vieler politischer Debatten steht: der Klimawandel und die daraus zu ziehenden energiepolitischen Konsequenzen. Wir müssen dabei Daten vertrauen können, die wir selbst nicht erhoben haben, denn in der Regel lesen wir die zahlreichen einschlägigen Artikel in den entsprechenden Fachjournalen kaum jemals selbst. Wir müssen also der Auswertung dieser Daten durch Expertinnen und Experten vertrauen können und den Gutachten zur Qualitätssicherung,den peer-reviews, der einschlägigen Zeitschriften, in denen diese Daten publiziert werden. Darüber hinaus sind wir auf Journalistinnen und Journalisten angewiesen, denen wir hinsichtlich der Wiedergabe und einer vernünftigen Gewichtung der wissenschaftlichen Diskussion trauen können müssen. Das ist das, was ich mit der Kette von Vertrauen meine, die intakt gehalten werden muss. Vertrauen ist also ein kostbares Gut, das man nicht aufs Spiel setzen sollte. Zu diesem Vertrauen gehört auch ein Vertrauen in die Zukunft der Gesellschaft. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Zukunft vorhersehbar sein muss. Was aber heisst es dann? Nichts anderes, als dass die Entscheidungen,welche die gemeinsame Zukunft betreffen, auf einer gründlichen gemeinsamen Diskussion der verfügbaren Informationen und Erkenntnisse beruhen, dass Informationen in einem durchschaubaren Prozess interpretiert und gewichtet werden und dass daraus folgende Entscheidungen demokratisch erfolgen und demokratisch legitimiert sind. Es bedeutet keine Herrschaft der Technokraten, keine Ad-hoc-Volksentscheide, sondern eine immer wieder zu erneuernde Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemen, welche in der Gegenwart entstehen und in der Zukunft beantwortet werden müssen.

<p>Peter Schneider ist Psychoanalytiker. Daneben arbeitet er als Satiriker und Kolumnist. Er ist Autor zahlreicher Bücher.</p>