Stapferhaus logo

Close button

Melancholisches Pfeifen im Walde

Wissenskrise. Am Ende der Aufklärung steht der Blick in die Leere. Es ist höchste Zeit, genau hinzuschauen: Der Streit um die Fakten ist eigentlich ein Streit um die Werte, nach denen wir leben wollen.

Man könnte ja irre werden: Immer dann, wenn man denkt, nun könne sich die Politik endlich mit den wirklich ernsten Problemen unserer Zeit beschäftigen, schiebt sich etwas dazwischen. Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, «Migrationskrise», wiederaufkommender politischer Populismus, Radikalismus und Nationalismus, und im Hintergrund mehren sich die Zeichen, dass es ernst wird mit Artenverlust und Klimawandel und dass mit ihnen ein Potenzial für beispiellose humanitäre Katastrophen einhergeht.

Aber wir haben ja Glück, denn im postfaktischen Zeitalter können wir den Kopf in den Treibsand alternativer Fakten stecken. Was hat es damit auf sich? Handelt es sich hierbei um den weiteren Versuch der sprachlichen, symbolischen Beherrschung der Ambivalenz und Unordnung der Welt, das Aufdämmern der existenziellen Ängste angesichts einer ungewisser werdenden Zukunft einzuhegen? Kontrollillusion in Zeiten des Kontrollverlusts? Lars von Trier beschreibt dies in seinem grandiosen Film Melancholia, indem am Ende ein Planet gleichen Namens auf die Erde trifft und diese vernichtet. Als das Ende unabwendbar ist, unternimmt eine der Figuren im Film einen letzten Versuch zur Schaffung einer solchen Symbolik, um ihrer Schwester und deren Sohn die Angst zu nehmen. Sie baut eine Hütte aus Stöcken, in der sie sich «sicher» fühlen können. Sind die alternativen Fakten «nichts anderes als jene Stöckerhütte einer eingebildeten Furchtlosigkeit, bevor der Wahnsinn unserer Existenz uns ereilt», wie es Thomas E. Schmidt in seiner Rezension des Films formuliert hat?

Aber Moment, das Phänomen der postfaktischen Gesellschaft geht tiefer, es reicht bis ins Zentrum des Projekts der europäischen Aufklärung. Angesichts einer wohl nicht mehr zu leugnenden Erosion von Begriffen wie Faktum oder Wahrheit, die stark befeuert von Personen wie Trump von immer mehr Populisten betrieben wird, gibt es den Reflex, dies als zutiefst unanständigen und letztlich dummen Versuch, sich über die Wahrheit hinwegzusetzen, zu begreifen. Ein solcher Reflex mag sympathisch erscheinen, doch ist er auch im Sinne einer Verteidigung von Vorstellungen wie Wahrheit und Faktum zu kurz gedacht. Fakten waren und sind immer nur Konstruktionen innerhalb eines normativen Bezugsfelds, und wenn man sich effektiv gegen die Zersetzung dieser Begriffe zur Wehr setzen will, darf man dies nicht verleugnen, sondern muss es anerkennen und in einem tiefen Sinne verstehen. Fakten und Wissenschaft basieren immer auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft hinsichtlich der Frage, wie man leben möchte. Eine Zersetzung dieser und damit einhergehend eine Diskreditierung eines Modells des wissenschaftlichen Experten wird dann im besseren Fall lesbar als der Versuch einer Verschiebung der gesellschaftlichen Übereinkunft hinsichtlich der Ziele und Zwecke des Miteinander.

Was sind denn Fakten? Konstruktionen des Geistes. Der Philosoph Hans Albert hat das Problem auf einfache Art mit seinem sogenannten Münchhausen-Trilemma auf den Punkt gebracht: Um eine (wissenschaftliche) Aussage zu belegen, benötigt man Begründungen. Diese sind aber selbst wiederum begründungsbedürftig. Damit haben wir aber die Wahl zwischen drei unbefriedigenden Alternativen. Wir begeben uns in eine nie endende Kette von Begründungen und Begründungen von Begründungen und Begründungen von Begründungen von Begründungen.Oder wir kommen zu einem Punkt, an dem die Begründung sich im Kreis dreht: die Erde ist rund,weil …, weil die Erde rund ist. Beide Alternativen sind für die wissenschaftliche Erkenntnis zumindest ausserhalb der Mathematik unbefriedigend.Daher bleibt für die Praxis nur der dritte Weg, den Albert mit dem Begriff Dogmatismus belegt hat: Die Begründung bricht an einer Stelle willkürlich ab.Diese ersten Prinzipien werden selbst nicht begründet, sondern sind normative Setzungen der Wissenschaftler.

Ob man will oder nicht, der Startpunkt jeder Wissenschaft ist genau hier: bei ersten, nur normativ begründbaren Setzungen. Fakten sind aus dieser Sicht nichts anderes als innerhalb eines solchen normativen Referenzrahmens ableitbare Schlussfolgerungen und damit selbst normativ gefärbt. Der Begriff der Wahrheit und Erkenntnis wird ersetzt durch ein pragmatisches Kriterium:Etwas ist wahr nur insofern, als es funktioniert:«It works», wie der US-amerikanische Pragmatist William James es formuliert hat.

Warum ist das problematisch? Weil «Funktionieren» immer nur vor dem Hintergrund eines normativen Ziels verständlich wird, und wenn man dies nicht teilt, ist man nicht auf die sich davon ableitenden Fakten verpflichtet. Es kommt noch schlimmer: Der wissenschaftliche Mainstream basiert weitgehend auf einem positivistischen Wahrheitsbegriff, der nur Sätzen, die aufgrund ihrer logischen Form immer wahr sind («eine Wurzel aus 16 ist 4»), und Sätzen über empirisch überprüfbare Tatsachenverhältnisse («vor der Tür steht ein Hund») Wahrheitswert zuschreibt. Normative Aussagen sind aber weder das eine noch das andere und daher nach dieser Auffassung nicht wahrheitsfähig: Sie sind Prinzipien oder Meinungen.Theorien mit unterschiedlichen dogmatischen Setzungen stehen dann unvermittelbar nebeneinander. Jede Einigkeit basiert auf der freiwilligen Bereitschaft aller Beteiligten, die ersten normativen Prinzipien anzuerkennen. Tun sie dies nicht,so kann man sie nicht dazu zwingen. Bartlebys Strategie (aus Herman Melvilles hellsichtiger Erzählung) des «Ich möchte lieber nicht» kann argumentativ nicht beigekommen werden.

Natürlich lugt hier die Fratze des Skeptizismus um die Ecke. Aber was soll’s: Erkenntnis basiert – wie wir gesehen haben – immer auf einem bestimmten Interesse, welches sich in den normativen Prinzipien versteckt, und dies muss kein Erkenntnisinteresse sein. Teile ich dieses nicht, so kann ich nicht verpflichtet werden, mich an die innerhalb einer Theorie ableitbaren Fakten gebunden zu fühlen. Es geht innerhalb eines alternativen normativen Rahmens gar nicht darum,ob zum Beispiel menschengemachter Klimawandel existiert oder nicht. Seine Existenz muss gar nicht geleugnet werden. Wenn das eigene Interesse sich im Quartalsgewinn erschöpft, spielen Phänomene wie Klimawandel nur insoweit eine Rolle,als dass sie die Quartalszahlen verändern. Seine Leugnung ist nicht mehr im Sinne von wahr oder falsch bewertbar (denn dazu müsste man sich auf die normativen Prinzipien einer Theorie geeinigt haben), sondern nur im Sinne einer Zu- oder Abträglichkeit der Verfolgung des eigenen Interesses.Wenn der Begriff der Wahrheit durch den Begriff des Interesses verdrängt wird, kommt dies dem ultimativen Triumph eines ökonomischen Prinzips der Zweckrationalität gleich: Theorien und Fakten sind Strategien neben anderen im Wettbewerb konkurrierender Interessen. Und hier sind wir im paradoxen Zentrum der europäischen Aufklärung angelangt: denn schliesslich ist auch sie nichts weiter als eine Stöckerhütte, ein Pfeifen im Walde, und zeigt dies auch noch: führt sie doch letztlich an die Grenzen dessen, was sie leisten kann und gewährt im Ausleuchten dieser Grenzen einen Blick in eine durch sie nicht zu füllende existenzielle Leere, it doesn’t work: nur Antworten auf Wie- aber keine auf Wozu-Fragen.

Illustration, in der eine gelbe Figur auf der roten sitzt, deren Hand vertrauensvoll auf dem Brustkorb der gelben ruht.

Was bedeutet das für die Gegenwart? Erstens wird erkennbar, warum eine über sich selbst aufgeklärte Wissenschaft über kein wirksames Immunsystem gegenüber Angriffen von aussen verfügt. Wie soll sie sich gegen Angriffe verteidigen, die auf anderen normativen Prinzipien basieren,die nicht dieselbe Vorstellung von it works teilen? Es stehen dann Dogmatismus gegen Dogmatismus, möge der Stärkere gewinnen. Und zweitens sieht man damit umgekehrt, dass Wissenschaft nur innerhalb eines gesellschaftlich geteilten Wertesystems hinsichtlich der Ziele und Zwecke «funktionieren» kann. Wird dieser Konsens von immer weiteren Teilen der Öffentlichkeit aufgekündigt,so kommt sie an ihre Grenzen. Sie steht wie das Kaninchen vor der Schlange «alternativer Fakten»,die eben anderen Zwecken dienen.

Damit kommen wir zum eigentlichen Kern der heutigen Krise der Fakten, Wahrheit und Wissenschaft. Sie geht deutlich tiefer als man vielleicht vermuten würde, wenn man Fakten für objektiv und alternative Fakten für unverfroren hält, gleichzeitig aber davon ausgeht, dass die Wirklichkeit die alternativen Fakten irgendwann zur Rechenschaft ziehen wird. In dieser Krise offenbart sich entweder eine Irrationalität hinsichtlich der Wahrnehmung eigener Interessen. Oder es zeigen sich unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Ziele und Zwecke unserer Gesellschaft. Der letztere Fall kann dann aber nur rekonstruiert werden als eine radikale Aufkündigung des Wertesystems, welches wir mit dem Begriff der «europäischen Aufklärung»bezeichnen.

Hängt man diesem Wertesystem an, dann bestehteigentlich nur aus zwei Gründen Hoffnung auf dessen Fortbestand. Einerseits könnten sich diejenigen Kräfte, die an den Fundamenten kratzen, am Ende als zu schwach erweisen. Oder – und damit verwandt – die Vertreter dieser neuen Ordnung lernen, dass sie sich in ihren Zielen getäuscht haben. Unsere existenzielle Herausforderung ist der Klimawandel und der Verlust an Biodiversität mit den Folgeproblemen wie Massenmigration etc. Mit der wachsenden Einsicht, dass die eigenen Ziele – und seien sie nur die Quartalsgewinne – von diesen Entwicklungen nicht abzukoppeln sind, wächst der Druck auf die Anerkennung der Fakten, die sich innerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams zeigen.

In einem solchen Moment rücken einem die Dinge auf den Leib. Sie werden existenziell wie bei der Nachricht über eine Krankheit oder den Verlust eines Freundes. Keine symbolische Ordnung oder Projektion gewährt mehr Schutz, auch sie werden als stabilisierende Stöcke einer nur eingebildeten Furchtlosigkeit entlarvt. Hoffentlich kommt diese Einsicht auf geteilte Werte früh genug, um die sonst wohl unvermeidbaren humanitären Katastrophen noch abwenden zu können. Der Wissenschaftler und Umweltaktivist David Suzuki hat das Problem so formuliert: «Mutter Natur wird auf sich selbst aufpassen. Ich fürchte, die Frage ist, ob der Mensch da sein wird, um ihre Zukunft zu sehen.»

<p>Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen.</p> <p>Illustrationen Emma Verhulst</p>