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Wer ist verantwortlich für unsere Gesundheit?

Bea Albermann

Aus der Publikation zur Ausstellung
Essay aus der Publikation «Hauptsache gesund? 33 Fragen – 111 Antworten»

«Alle Krankheiten haben zwei Ursachen: eine pathologische, die andere politisch.» Bereits im 19. Jahrhundert brachte der deutsche Pathologe Rudolf Virchow diese Einsicht auf den Punkt – und sie ist heute aktueller denn je. In Zeiten, in denen die Klimakrise die grösste Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellt, ist ein Teil unserer Gesundheit zwar selbst gestaltbar, der viel grössere Teil jedoch nicht. Ich kann mir beispielsweise nicht aussuchen, wie sauber die Luft ist, die ich einatme. Auch kann ich nichts dafür, dass wir weiblichen Ärztinnen im Schnitt mehr Mikroaggressionen im Klinikalltag erleben als unsere männlichen Kollegen. Beides hat langfristig gesehen negative Folgen für meine Gesundheit – und zeigt, wie sehr sie von äusseren Umständen beeinflusst wird.

In meinem Arbeitsalltag als Ärztin beschäftigt mich die Frage nach der Verantwortung täglich. Natürlich kann ich meine Patient:innen über gesundheitliche Risiken und Vorteile im Verhalten informieren, zum Beispiel indem ich sie darüber aufkläre, dass der Konsum von rotem Fleisch unser Darmkrebsrisiko erhöht oder dass tägliche Bewegung in der Natur oder Achtsamkeitsübungen gut für die psychische Gesundheit sind. Doch gleichzeitig habe ich immer im Hinterkopf, dass die Gesundheit der einzelnen Patient:innen zu 80 % von äusseren Einflüssen, von den sogenannten sozioökonomischen «Gesundheitsdeterminanten», bestimmt werden: Wie viel Zeit, Geld und Ressourcen habe ich überhaupt, um mir Auszeiten zu gönnen, ausgewogen zu kochen, mich regelmässig zu bewegen, genügend zu schlafen oder zur ärztlichen Vorsorge zu gehen? Kann ich mir eine Wohnung im grünen, ruhigen Stadtteil leisten oder wohne ich an einer vielbefahrenen, lauten Strasse, deren Autolärm und Luftverschmutzung meine Lebensqualität beeinflussen? Erlebe ich aufgrund meiner Hautfarbe, Herkunft, meines Geschlechts, Bildungsstandes oder einer Behinderung Diskriminierun-gen? Wohne ich in einem Bergdorf, das durch von der Klimakrise verursachte Überflutungen oder Bergstürze gefährdet ist?

Bei all diesen Fragen kann das Individuum nur sehr beschränkt selbst Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Es liegt in der Verantwortung des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen alle Menschen die Möglichkeiten haben, gesund zu leben, zu werden und zu bleiben. Das unterstreicht auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die 1974 von der Schweiz ratifiziert wurde.

Den Handlungsspielraum erweitern

In der Schweiz gibt es Stimmen, die beim Lesen des letzten Absatzes «staatliche Bevormundung» rufen und mehr «Eigenverantwortung» fordern. Diese Stimmen setzen sich aktiv gegen Investitionen in Prävention und Gesundheitsförderung ein, für die wir Stand 2021 nicht mal 2 % unseres Gesundheitsbudgets ausgaben – und das, obwohl das Schweizer Gesundheitssystem das teuerste in Europa ist. Wer genau sind also die Menschen und Industrien, die verhindern, dass wir gesünder leben? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Der Diskurs der «Eigenverantwortung» wurde stark von der Tabak-, Alkohol- oder auch Gastronomiebranche geprägt. Das sind genau die Unternehmenszweige, die davon profitieren, wenn Menschen weiterhin mehr und mehr gesundheitsschädliche Konsumgüter kaufen. Die Branchen formierten sich 2008 mit rund 20 weiteren Organisationen zur «Allianz für eine massvolle Präventionspolitik» und setzten sich dafür ein, dass die Schweiz kein nationales Präventionsgesetz bekommt. In ihrer Kampagne setzte die Allianz auf die Betonung von Eigenverantwortung als Gegenwert zu vermeintlicher Einschränkung der Wahlfreiheit durch den Staat. Ähnliche Strategien verfolgen heute etwa die Automobil- und Erdöllobby, um Klimamassnahmen zu verhindern. Hinter dem Schlagwort der Eigenverantwortung stecken keine «Schweizer Werte», sondern gezielte ökonomische Interessen.

Bei Gesundheitsförderung geht es somit keineswegs um Bevormundung – im Gegenteil. Vielmehr zielt sie darauf ab, die Handlungsmöglichkeiten des Individuums zu erweitern und einen gleichberechtigten Zugang für alle zu schaffen. Nehmen wir das Beispiel der Klimaseniorinnen: Ältere Frauen leiden gesundheitlich besonders stark unter den zunehmenden Hitzewellen. Als Einzelpersonen können wir zwar lernen, wie wir uns vor der Hitze schützen können, aber wir können nicht über unser individuelles Verhalten mehr schattige Grünflächen in Städten herbeizaubern oder die zunehmende Erderhitzung durch die Verbrennung fossiler Treibstoffe verhindern. Dafür bräuchte es dringend tiefgreifende politische Massnahmen, die unsere Gesundheit und unsere Umwelt schützen, im Fall der Klimaseniorinnen hat das sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden.

Wir Menschen stehen in einem komplexen Beziehungsgefüge mit unseren Mitmenschen, mit anderen Lebewesen, mit Ökosystemen – mit unserer gesamten Umwelt. In der Wissenschaft wird das unter dem Gebiet «Planetary Health» zusammengefasst. Oder einfach gesagt: Gesunde Menschen gibt es nur auf einer gesunden Erde. Wir könnten Gesundheitspolitik viel breiter denken, als es jetzt getan wird, und gemäss dem WHO-Ansatz «Health in All Policies» unsere Gesundheit und Umwelt bei allen politischen Massnahmen mitdenken, «Planetary Health in All Policies» sozusagen. Die politische Debatte heute setzt jedoch auf kurzfristige Profite und Wachstum statt auf langfristige gesundheitliche Outcomes.

Die planetaren Grenzen respektieren

Wir müssen die Wurzel des Problems angehen: das Wachstumsparadigma. Bereits seit dem 1972 veröffentlichten Bericht des Club of Rome ist klar, dass unbegrenztes Wachstum die Grenzen unseres Planeten sprengt. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, welches die planetaren Grenzen respektiert und unser Wohlergehen ins Zentrum stellt. Dafür gäbe es auch schon Lösungen: die Donut-Ökonomie, ein bedingungsloses Grundeinkommen, reduzierte Arbeitszeit, mehr Geld und Zeit für Sorgearbeit, Förderung von geteiltem Besitz, solidarische Landwirtschaft, Mobilitätswende, partizipative Demokratie, eine Abschaffung von Grenzen und eine globale Umverteilung von Ressourcen. All das sind Möglichkeiten, um systemische Rahmenbedingungen zu transformieren, hin zu einem gerechteren Zugang zu Gesundheit für alle. Auch müssen wir diejenigen in die Verantwortung ziehen, die den grössten Teil der gesundheitsschädlichen Treibhausgas-Emissionen verursachen. Laut einem Oxfam-Bericht stösst das reichste Prozent der globalen Bevölkerung gleich viel CO2 aus wie fünf Milliarden Menschen. Hier gilt es anzusetzen. Und hier braucht es auch Regulationen und Einschränkungen. Einschränkungen, um den Handlungsspielraum zu erweitern? Was paradox klingen mag, ist eigentlich ganz logisch: Schon der Philosoph Immanuel Kant meinte, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo sie diejenige des Nächsten beschneidet. Beispielsweise fliegen weiterhin wenige reiche Menschen mit ihren Privatjets durch die Welt und entscheiden sich gegen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Ihre Wahl und die daraus folgenden Emissionen sind mitverantwortlich für die Zerstörung unserer gemeinsamen Lebensgrundlage und gefährden die Gesundheit aller. Privatjets zu verbieten wäre somit ein Weg, die Freiheit von jetzigen und künftigen Generationen zu bewahren.

Verantwortung übernehmen

Wir können Gesundheit auf drei Ebenen leben: durch Fürsorge für uns selbst, für unsere Gemeinschaft und für unsere Umwelt. Nur wenn wir allen drei Ebenen Sorge tragen, können wir langfristig gesund sein. Darum sind wir auch für alle drei Ebenen mitverantwortlich. Aber wir verfügen nicht alle über gleich viel Ressourcen und Entscheidungsmacht. Menschen mit vielen Privilegien haben besonders viel Macht und Möglichkeiten, durch ihre Entscheidungen entweder aktiv den Status quo zu erhalten oder ihn zu verändern. Diejenigen, die aktuell an der Macht sind, werden ihrer Verantwortung nicht gerecht – selbst jetzt nicht, wo verschiedene Krisen die Zusammenhänge überdeutlich aufzeigen. Entsprechend dem Slogan «Power to the People» realisieren immer mehr Menschen, dass wir eine Demokratie aktiv leben und uns auch als Zivilbevölkerung für Systemwandel einsetzen können. Klar, beim Stichwort «Systemwandel» fühlen sich viele erst einmal ohnmächtig. Wie soll ich allein ein ganzes System verändern? Das Wichtigste ist darum: nicht allein bleiben! Je mehr Menschen nicht nur eine Haltung haben, sondern diese auch zeigen und sich zusammentun, desto näher kommen wir unserer wünschenswerten Zukunft.