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«Wir halten Mehrdeutigkeit nicht mehr aus»

Interview mit Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster. Über Wahrheitsobsession, fehlende Ambiguitätstoleranz und Trumps Lügen.

Warum sehnt sich der Mensch nach dem Echten?
Wir leben in einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft. Darin gibt es zwei Typen: den Kämpfer, der in ständiger Konkurrenz zu allen anderen steht, und den Konsumenten, der für seine Bedürfnisse lebt. Wer sich im Konsum verwirklicht, sucht das«Authentische», das «Echte». Dahinter steckt ein Menschenbild, das davon ausgeht, dass es in uns ein unverfälschtes Selbst gibt. Ein Selbst, das reine Natur ist und seine «innersten Bedürfnisse» befriedigen will. Da kann einem etwa das Bier aus Brooklyn zum Versprechen werden. Weil es das Einzige ist, das einem «wirklich» entspricht. Die Werbung spielt in diesem Zusammenhang eine überaus wichtige Rolle. Sie ist die grösste Umerziehungsveranstaltung der Moderne.

«Sei du selbst!» Was ist daran falsch?
Im Glauben, dass es ein «echtes» Selbst gibt, verlieren wir zunehmend die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten. Wir entwickeln die sogenannte Ambiguitätstoleranz kaum mehr. Um wir selbst sein zu können, müssen wir alle gesellschaftlichen Rollen ablegen. Es gibt nur eine Rolle, die des «authentischen Ichs». Damit geht ein sinkendes soziales Engagement einher, und es schwindet das Bewusstsein, dass jeder verschiedene soziale Rollen hat. Es ist völlig normal, dass ich als Wissenschaftsprofessor andere Dinge sage als dann, wenn ich unter Freunden bin und mit ihnen Skat spiele.

Was ist mit Politikern?
An Politiker ist die Erwartung besonders hoch, dass sie authentisch sind. Obwohl es selbstverständlich sein müsste, dass sie in ihrer Amtsfunktion eine andere Haltung haben können denn als Privatpersonen. Dass ein Bürgermeister sich für den Bau einer neuen Strasse einsetzt, heisst nicht, dass er zu Hause nicht sagen kann: Ich finde das eine schlechte Idee.

Es ist also in Ordnung, wenn Politiker mit zwei Zungen sprechen?
Nein, das ist nicht als Plädoyer für Heuchelei gedacht! Aber wir müssen aushalten, dass es dazugehört. Politiker handeln nun mal politisch. Wohin der Wunsch nach Authentizität in der Politik führen kann, haben wir mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gesehen. Er ist ein launenhaftes Kind, das immer wieder zurechtgewiesen werden muss.

Man könnte auch sagen: Wer nach Authentizität strebt, der ist um einen Standpunkt in der Welt bemüht. Der will mitreden und mitgestalten.
Gerade wenn man mitreden und mitgestalten will, sollte man sein Ego zurücknehmen und auf andere hören, sich mit ihnen auseinandersetzen und vielleicht sogar von ihnen lernen.

Wer Mühe hat, Mehrdeutigkeit auszuhalten, sagen Sie in ihrem jüngsten Buch, für den wird die Wahrheit zur Obsession. Was meinen Sie damit?
Für viele Menschen gibt es heute nur eine einzige Wahrheit, und diese ist auch erkennbar. Deshalb hat auch jeder eine Meinung zu allem. Wir sind lieber überzeugt von etwas, als dass wir mit der Leerstelle leben, dass wir etwas nicht verstehen oder nicht wissen.

Trumps Lügen zu verstehen fällt tatsächlich schwer. Müssten sie uns im Namen der Ambiguitätstoleranz egal sein?
Weder völlige Bedeutungsoffenheit noch völlige Eindeutigkeit sind erstrebenswert. Also eindeutig nein. Ein Zuviel an Ambiguitätstoleranz ist genauso schlimm wie ein Zuwenig. Es gibt Lüge und Wahrheit. Nehmen wir als Beispiel die menschengemachte Klimaerwärmung: Darüber kann man wohl diskutieren, aber sie steht fest und ist wissenschaftlich erwiesen. Sie ist eine Wahrheit.

Ist es heute nicht viel eher so, dass es nicht eine einzige Wahrheit gibt, sondern dass jeder seine eigene hat?
Ich würde es eher so formulieren, dass heute sehr viele Menschen auf der Eindeutigkeit ihrer eigenen Meinung beharren. Hier haben der Fundamentalismus und der Populismus ihren Ursprung. Wir setzen uns nicht mehr dem mühsamen Aushandeln von Kompromissen aus, die auch weh tun. Das spaltet und polarisiert Gesellschaften.

Wie kommen wir da heraus?
In einem totalitären Kapitalismus ist es nicht leicht, Lösungen zu finden. Wir müssen die Nischen stärken: die Musik, die Kunst, die Literatur – da, wo sie noch nicht vom Kapitalismus vereinnahmt sind. Wir müssen schon in der Schule lernen, dass es in Ordnung ist, wenn wir etwas nicht verstehen.

Wie kann man als Einzelner Ambiguitätstoleranz üben?
Zuallererst muss man ein Bewusstsein dafür entwickeln, wo Eindeutigkeit am Platz oder sogar notwendig ist und wo man Mehrdeutigkeit, Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit aushalten muss.

Interview: Alain Gloor

Skizzierte Figur mit erhobenen Armen, in deren Bauch erneut eine skizzierte Figur mit erhobenen Armen ist etc.
<p>Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster und mit seinem jüngsten Buch «Die Vereindeutigung der Welt». Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (2018) auf vielen Sachbuch-Bestenlisten zu finden, über Wahrheitsobsession, fehlende Ambiguitätstoleranz und Trumps Lügen.</p> <p>Bild: «Sei einfach nur du selbst», Georges Mauch, Flickr, CC BY-NC-SA 2.0</p> <p>------</p> <p>Dieser Artikel ist Teil der Begleitpublikation 'FAKE. Das Magazin'.</p> <p>Das ganze Magazin bestellen via: info@stapferhaus.ch</p>